2005

Vom Krieg zum Krieg

Nationalsozialismus und Erster Weltkrieg

Projektleitung

Prof. em. Dr. Gerd Krumeich

English summary

What implications did the First World War have for the Nazis’ ideology and their cultural policy? From 2005 to 2009, a project led by Professor Gerd Krumeich followed up that question. Experience of war, Post-War Order intended by the Versailles Treaty and World Economy Crisis are parts of the common explanations both for the NS-Movement’s success since 1930 and the take-over of power by Adolf Hitler in January 1933. But the First World War’s obvious presence in Hitler’s public statements had never been profoundly analyzed before. On one side, the researchers investigated Hitler’s personal war experience and its effect on his political ascent in the 1920s. On the other side, they concentrated on references to the First World War in dialogues between NS-Leaders and their organisations. At the end of the research project, an international symposium took place at the Heinrich-Heine-University in Düsseldorf, to discuss the various and often surprising connections between the lost World War and the NS-regime.

Welchen Stellenwert hatte der Erste Weltkrieg für Ideologie und Kulturpolitik des Nationalsozialismus? Diese Frage stand im Zentrum eines von Prof. em. Dr. Gerd Krumeich geleiteten Forschungsprojekts in den Jahren 2005 bis 2009. Kriegserfahrung, Versailler Nachkriegsordnung und Weltwirtschaftskrise gehören zwar zu den gängigen Erklärungsmustern für den Erfolg der NS-Bewegung ab 1930 sowie für die Machtübernahme durch Adolf Hitler im Januar 1933, aber die ganz offensichtliche Präsenz des Ersten Weltkriegs in Hitlers öffentlichen Äußerungen ist zuvor noch nicht umfassend untersucht worden. Die Wissenschaftler gingen zum einen der persönlichen Kriegserfahrung Adolf Hitlers und ihren Auswirkungen auf den politischen Aufstieg in den 1920er Jahren nach. Zum anderen beschäftigten sie sich mit Rückbezügen auf den Ersten Weltkrieg im Diskurs führender NS-Persönlichkeiten und in den Organisationen der Nationalsozialisten. Zum Abschluss des Forschungsprojekts fand an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf eine internationale Fachtagung statt, während der die vielfältigen und oftmals überraschenden Verbindungslinien zwischen dem verlorenen Weltkrieg und der NS-Diktatur diskutiert wurden.

Prof. Dr. Gerd Krumeich war bis zu seiner Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Wir haben ihn unter anderem nach zentralen Forschungsergebnissen und nach dem internationalen Stand der Forschung zur Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs gefragt:

Prof. Dr. Gerd Krumeich

Gerda Henkel Stiftung (GHS): Herr Professor Krumeich, Sie haben ein Forschungsprojekt geleitet, das die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die Entstehung des Nationalsozialismus untersucht. Von Ian Kershaw stammt die Formulierung, der Erste Weltkrieg habe „Hitler erst möglich gemacht“. Können Sie zusammenfassen, welche zentralen neuen Ergebnisse Ihr Projekt hervorgebracht hat?

Prof. Krumeich: Erst durch dieses Projekt sind die Dimensionen der Aneignung und Transformierung des Ersten Weltkrieges durch den NS sichtbar geworden und interessierten Wissenschaftlern und der Öffentlichkeit ins Bewusstsein gekommen. Die Nationalsozialisten haben, wie die im Rahmen dieses Projekts geförderten Arbeiten gezeigt haben, die Weltkriegserinnerung wie keine andere Partei der Weimarer Republik für sich in Anspruch genommen. Hitler hat das „deutsche Trauma“ vom ungerecht bzw. durch Verrat verlorenen Krieg immer wieder angesprochen und sich und seine Bewegung als Heiler dieses tiefen Traumas angeboten. Das wichtigste Ergebnis des Projektes ist, dass die gesamte Sozial- und Kulturpolitik des NS, vor und nach der Machtergreifung, diesen Fokus der „Bewältigung“ des Weltkriegserlebnisses hatte.

GHS: Der Erste Weltkrieg hat zu einer Veränderung der Mentalitäten in Europa geführt und sowohl eine Brutalisierung des Krieges als auch eine Ideologisierung der Menschen hervorgerufen. Welche Rückschlüsse können Sie nach Abschluss des Projekts mit Blick auf die Veränderung der deutschen und anderer europäischer Gesellschaften nach 1914 ziehen?

Prof. Krumeich: Es besteht für mich kein Zweifel, dass der Krieg die europäischen Gesellschaften „brutalisiert“ hat, allerdings in verschiedener Form und ungleich stark bei Siegern und Besiegten. Hauptgrund dieser Verrohung ist der Umgang mit und die Gewöhnung an den Massentod, der quasi maschinenmäßig erfolgte. Auch das Kriegserlebnis als Erlebnis des extremen Handelns in organisierten Gruppen (Kompanien, Bataillone usw.) ist eine Erfahrung, die sich direkt in die nach dem Kriege überall in Europa entstehenden faschistischen Bewegungen eingeprägt hat. Andererseits waren diese Faschismen in den verschiedenen Ländern ganz unterschiedlich stark. In Frankreich beispielsweise, waren die „Croix de Feu“ zwar lautstark und kampfbereit, wurden aber von einem grundlegenden „Nie-wieder-Krieg“-Pazifismus der öffentlichen Meinung eingegrenzt.

Besonders schlimm und weiterer Untersuchung würdig ist das Schicksal der Kriegskinder, die – in Deutschland mehr als in den anderen europäischen Ländern – hungernd aufwuchsen und denen millionenfach der Vater fehlte„Besonders schlimm und weiterer Untersuchung würdig ist das Schicksal der Kriegskinder.“. Wie Sebastian Haffner in seiner „Geschichte eines Deutschen“ so treffend berichtet hat, brach für die Kinder und Jugendlichen 1918 mit der Niederlage eine Welt zusammen. Sie waren durch die jahrelang gehörte und gelesene Propaganda so überzeugt gewesen vom schließlichen Sieg, dass ihnen die Niederlage vielfach nur als „Verrat“ erklärbar war. Und als „Verräter“ ließen sich sehr einfach schon zuvor ausgegrenzte Gruppen bezeichnen, vor allem „die Juden“. Man weiß heute, dass die meisten NS-Führer den Ersten Weltkrieg als Kinder bzw. Jugendliche erlebt haben.

Plakat der NSDAP zur Reichspräsidentenwahl, nach einem Entwurf von Mjölnir (Hans Schweitzer), 1932

[Bildquelle:

BayHStA, Plakatsammlung 11239

]

GHS: Als zentral gilt auch die Kriegserfahrung Adolf Hitlers. Inwieweit hat Hitler, der sich selbst als „Sohn des Krieges“ bezeichnete, auf den Ersten Weltkrieg zurückgegriffen, und wie hat sich eine ähnliche Prägung auf andere führende Personen des Dritten Reiches ausgewirkt?

Prof. Krumeich: Hitler hat sich in der Tat durchgehend als vom Erlebnis des Weltkriegs gezeichnet dargestellt. Die neuere Forschung hat zwar in Frage gestellt, ob er wirklich ein tapferer Frontsoldat gewesen ist (v.a. Thomas Weber in „Hitlers Erster Krieg“). Für mich bleibt aber unzweifelhaft, dass Hitler den Krieg tatsächlich als einfacher Frontsoldat erlebt und erlitten und sich dadurch radikalisiert hat. In seinen Reden sind die Erinnerung an den Krieg, das Heldentum der „Frontkämpfer“ und der schäbige „Verrat“ durch den „jüdischen Bolschewismus“ durchgehend greifbar. Hitler hat dann auch schon ab Mitte der 1920er Jahre das große Problem aufgegriffen, dass die im Krieg verwundeten Soldaten im „System“ von Weimar zwar sehr gut (relativ gesehen) behandelt wurden, aber dass der besondere Status ihres Opfers für das Vaterland nicht anerkannt wurde. Die „Kriegsversehrten“ (so die offizielle Bezeichnung!) waren rechtlich exakt den durch Arbeitsunfälle u.ä. „Versehrten“ gleichgestellt.

Was andere führende Personen des NS angeht, so muss man unterscheiden zwischen denjenigen, die im Feld gekämpft hatten, und denjenigen, die den Weltkrieg als Kinder oder Jugendliche erlebt hatten. Die ersteren gingen nach dem Krieg (oft via Freikorps) in die SA (Ernst Röhm) oder transformierten ihr soldatisches Kriegserlebnis in völkische Prosa (Hans Zöberlein). Aber die Masse der NS-Intelligenz und des SS-Führungskorps waren Kinder des Großen Krieges. Ein typisches Beispiel ist Werner Best, dessen Biografie von Ulrich Herbert auf diesen Zusammenhang besonders aufmerksam gemacht hat.

GHS: Was ist Ihnen ganz persönlich wichtig an diesem Thema – insbesondere vor Ihrem Hintergrund als Historiker, der stets auch die französische Perspektive mitdenkt?

Prof„Hitler hat es verstanden, dem Krieg im Nachhinein noch einen positiven Sinn und Wert zu geben.“. Krumeich: Für mich ist enorm wichtig zu erkennen, dass Hitlers Beliebtheit bei den Deutschen weniger seinem Extremismus (Antisemitismus, Anti-Bolschewismus usw.) entspringt, als dem großen Verlangen der Deutschen, von der Schuld am Kriege, der Ungerechtigkeit des „Schandfriedens“ von Versailles befreit zu werden. Hitler hat es verstanden, dem Krieg im Nachhinein noch einen positiven Sinn und Wert zu geben.

Was die „französische Perspektive“ angeht: Die Fragestellung und die Ergebnisse haben in Frankreich vielleicht noch mehr Interesse und Zustimmung erfahren als in Deutschland. Denn im Unterschied zur deutschen Historiographie ist der Erste Weltkrieg für die Franzosen heute noch zentral, „la Grande Guerre“. Und für sie ist es sehr viel einfacher einzusehen, dass das Kriegserlebnis von 1914–1918 Menschen wie Hitler hervorbringen konnte und dass es für die Deutschen schlecht möglich war, die zwei Millionen Toten des Weltkrieges  einfach zu marginalisieren.

Kurioserweise hatte der Erste Weltkrieg für die großen Geschichten Weimars (von Erich Eyck über Hans Mommsen, Heinrich-August Winkler bis hin zu Horst Möller u.a.) keine besonders bedeutende Rolle für den Aufstieg des NS und für seine Akzeptanz in der deutschen Bevölkerung gespielt. Die Forschungsergebnisse unseres Projekts sind in Frankreich früher rezipiert worden als in Deutschland.

Titelblatt des NSKOV-Jahrbuchs von 1936

GHS: Im Jahr 2009 haben Sie im Rahmen des Projekts eine Tagung in Düsseldorf durchgeführt. Mit welchen Kolleginnen und Kollegen haben Sie in Deutschland und international besonders intensiv zusammengearbeitet?

Prof. Krumeich: Die Tagung galt teilweise als Provokation der etablierten Forschung in Deutschland. Und einige hervorragende deutsche „Weimar-Historiker“ haben zunächst eher gespottet. Aber es gab auch viel Zuspruch vor allem aus der mittleren Generation. Ian Kershaw hat dann sogar eine Einführung geschrieben, Ulrich Herbert hat die Fragestellung sehr konzise ausgeführt, und der Schlussbeitrag des Bandes stammt von Volker Berghahn.

GHS: Haben die zahlreichen Publikationen und die Diskussion in der deutschen und internationalen Geschichtswissenschaft anlässlich der 100jährigen Wiederkehr des Kriegsbeginns 2014 zu neuen Bewertungen und Thesen geführt?

Prof. Krumeich: Ja, man ist heute insgesamt sehr viel weiter gekommen in der Betrachtung der Auswirkungen des Krieges auf die Nachkriegs-Gesellschaften. Es gibt nicht mehr die damals noch so stark spürbare Trennung zwischen Weltkrieg I-Forschung und Historiographie der Zwischenkriegszeit. Die besten Belege hierfür sind die neuen großen Gesamtdarstellungen, etwa Jörn Leonhards „Büchse der Pandora“, Ulrich Herberts „Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert“, Ian Kershaws „Höllensturz“ und James Sheehans „Kontinent der Gewalt“.

GHS: Wie kam es zur Förderung des Projekts durch die Gerda Henkel-Stiftung, und wie haben Sie die Zusammenarbeit empfunden?

Prof. Krumeich: Ich hatte zuvor schon mehrere Projekte mit der Gerda Henkel Stiftung erfolgreich durchgeführt. Dieses Projekt stieß ebenfalls auf großes Interesse, wofür ich heute noch dankbar bin. Die Gerda Henkel Stiftung hat alles getan, was ihr möglich war, um das Projekt auszugestalten. Ich war durchgehend im Austausch mit dem Vorstand. Auch die Publikation der Tagung sowie die aus dem Projekt hervorgegangenen Dissertationen sind ja ganz ausschließlich von der Gerda Henkel Stiftung gefördert worden.

Ich freue mich täglich über mein „Emeritus“-Dasein und den Wegfall der doch häufig zermürbenden universitären Verpflichtungen. Wenn ich eines bedauere, dann ist es die Tatsache, dass ich nunmehr Ideen nicht mehr direkt an junge Menschen weitergeben und die Gerda Henkel Stiftung um die Förderung der daraus entstehenden Arbeiten bitten kann. Das hat immer viel Freude gemacht und ich bleibe der Stiftung in großer Dankbarkeit verbunden!

Prof. em. Dr. Gerd Krumeich hat die Fragen der Gerda Henkel Stiftung schriftlich beantwortet.

Im Jahr 2010 wurden die Forschungsergebnisse in einer Publikation veröffentlicht.

Audio-Interview mit Prof. Dr. Gerd Krumeich bei L.I.S.A.

Die L.I.S.A.Redaktion hat das 100-jährige Gedenken an den Ersten Weltkrieg zum Anlass genommen, mit renommierten sowie mit nachwachsenden Historikerinnen und Historikern Interviews zu führen. Prof. Dr. Gerd Krumeich, einer der führenden Experten zum Ersten Weltkrieg, hat in einem Telefoninterview Fragen zu seinem neuen Buch ‚Die Julikrise 1914‘ beantwortet und dabei auch die Rezeption von Christopher Clarks Bestseller ‚Die Schlafwandler‘ einer kritischen Betrachtung unterzogen.

https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/gerd_krumeich

Prof. Dr. Gerd Krumeich, 1997-2010 Lehrstuhlinhaber für Neuere Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

[Bildquelle:

Prof. Krumeich

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Interview mit Dr. Arndt Weinrich bei L.I.S.A.

Dr. Arndt Weinrich, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut Paris und Leiter der Forschungsgruppe „Der Erste Weltkrieg“, hat im Rahmen des Forschungsprojekts als Stipendiat der Gerda Henkel Stiftung seine Dissertation „Der Weltkrieg als Erzieher. Jugend zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus“ verfasst. Die L.I.S.A.-Redaktion hat mit ihm über seine Arbeit gesprochen:

https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/arndt_weinrich

Dr. Arndt Weinrich, Deutsches Historisches Institut Paris

[Bildquelle:

Dr. Weinrich

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Projektinformationen

Projekttitel Nationalsozialismus und Erster Weltkrieg
Projektleitung   

Prof. em. Dr. Gerd Krumeich

Institution Universität Düsseldorf
Fachbereich Geschichte

Karte

Projektort
   
Projektleitung
Prof. em. Dr. Gerd Krumeich

Titelbild: Elk Eber: „Die letzte Handgranate“, Große Deutsche Kunstausstellung München 1937

[Bildquelle:

Hans-Jörg Czech/Nikola Doll (Hg.), Kunst und Propaganda im Streit der Nationen 1930–1945. Ausstellungskatalog, Berlin/Dresden 2007, S. 285

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